Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (Hrsg.): Schlussbericht

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Titel
Organisierte Willkür. Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930–1981. Schlussbericht


Herausgeber
Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen
Reihe
Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen 10 A
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 38,00; CHF 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Regula Ludi, Interdisziplinäres Institut für Ethik und Menschenrechte, Universität Fribourg

Seit einigen Jahren halten Missbrauchsskandale und Berichte über fürsorgerische Zwangsmassnahmen die Öffentlichkeit in Atem. Im Umgang mit solchen Vorkommnissen hat sich international die Kommissionsforschung als neuer Standard etabliert. Diese ist mit hohen Erwartungen konfrontiert: Sie soll eine politisch brauchbare Geschichte liefern, die nicht nur wissenschaftlichen Anforderungen genügt, sondern auch historisches Unrecht anerkennt und den Betroffenen Gerechtigkeit verschafft. Wie sich weltweit beobachten lässt, bildet das Urteil der Opfer zunehmend die Richtschnur für ihr Gelingen.1

Mit dem kürzlich publizierten Schlussbericht legt die Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen (UEK) die Ergebnisse eines solchen Aufarbeitungsprozesses vor. Ende 2014 von der Schweizer Regierung eingesetzt, verfügte die UEK über ein Budget von knapp 10 Millionen CHF und beschäftigte mehr als drei Dutzend Forschende.2 Ihr Forschungsauftrag richtete sich auf einen eingeschränkten, für europäische Rechtsstaaten wohl aber einzigartigen Teilbereich fürsorgerischer Zwangsmassnahmen: die «administrativen Versorgungen». Dieser Begriff bezeichnet die Anstaltseinweisung Erwachsener durch Entscheid einer Verwaltungsbehörde. Die Massnahme erfolgte ohne gerichtliches Verfahren, ohne Rechtsmittel für die Betroffenen und ohne Vorliegen eines strafwürdigen Delikts. Obwohl mit internationalen Standards unvereinbar, setzte erst eine Gesetzesrevision von 1981 der Praxis ein Ende. Auch die Aufarbeitung liess lange auf sich warten.

Ist es der UEK gelungen, den disparaten Erwartungen gerecht zu werden? Hat sie den Spagat zwischen Wissenschaft, öffentlicher Aufklärung und Rehabilitation der Betroffenen geschafft? Der vorliegende Schlussbericht präsentiert sich als Ergebnis eines Forschungsprozesses, den die Kommission unter Einbezug engagierter Betroffener konzipiert und durchgeführt hat. Sein Hauptteil (S. 13–305) besteht aus einer vorzüglichen Synthese der Untersuchungsergebnisse, verfasst vom extern beigezogenen Rechts-, Sozial- und Psychiatriehistoriker Urs Germann und der Soziologin und UEK-Mitarbeiterin Lorraine Odier. Der zweite, umfangmässig wesentlich schmalere Teil umfasst Kommentare von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen (S. 307–362). Dieser Berichtsteil widerspiegelt das etwas unbeholfene und nur halbwegs geglückte Bemühen der UEK, den Betroffenen eine Stimme zu geben. Die Zeugnisse wurden vor Abschluss der Forschungsarbeit geschrieben und sprechen ganz unterschiedliche Anliegen an. Ihre Integration erscheint beliebig und mangels Bezugs zur Forschungssynthese stehen sie verloren da. Der dritte und letzte Teil des Schlussberichts enthält politische Empfehlungen der UEK (S. 363–387).

Die wissenschaftliche Synthese konzentriert sich auf Ursachen und Legitimation der administrativen Versorgungen. Sie diskutiert die Gründe für die ungebrochene Kontinuität fragwürdiger Praktiken bis in die 1980er-Jahre und umreisst den Personenkreis, der von der Massnahme betroffen war. Verwaltungstechnisch fiel die administrative Versorgung in die kantonal geregelten Kompetenzbereiche der Sozialhilfe und der öffentlichen Gesundheit. Um sich einen Überblick über die Rechtsgrundlagen zu verschaffen, musste sich die UEK durch einen Dschungel von Gesetzen, Verordnungen und Reglementen schlagen, die materiell das weite Feld von Fürsorge, Suchtprävention, Sittenpolizei, Vormundschaft und Psychiatrie abdeckten. Zudem variierte die Behördenpraxis sehr stark, bedingt durch unterschiedliche Verwaltungstraditionen und das wirtschaftliche und strukturelle Entwicklungsgefälle zwischen den Kantonen.

Dennoch ist es Germann und Odier gelungen, markante Verbindungen herauszuarbeiten: Zum einen springt die Beharrlichkeit ins Auge, mit der Politiker und Behörden über Jahrzehnte hinweg am Instrument der Anstaltsversorgung festhielten. Zum andern zeigen sich auch in der Begründung der Zwangsmassnahmen Kontinuitäten. Anlass für den gravierenden Eingriff in die persönliche Freiheit waren stets die unangepasste Lebensweise der Betroffenen. Eingesperrt wurde, wer wegen «Arbeitsscheu» und «Liederlichkeit», Haltlosigkeit, Verwahrlosung und Gefährdung der öffentlichen Ordnung auffiel. Diese Quellenbegriffe waren extrem dehnbar, «Begriffshülsen» (S. 138), wie Germann und Odier schreiben, die sich dank ihrer Unschärfe mühelos auf neue Problemlagen übertragen liessen. Sie korrespondierten mit rigiden Konformitätszwängen und kamen dem breit geteilten Bedürfnis nach Gesellschaftsschutz entgegen.

Die unbestimmten Rechtsbegriffe begünstigten Behördenwillkür und brachten ein «Sonderrecht» hervor, das sich «gezielt gegen Arme und Angehörige von Randgruppen» (S. 45) richtete. Dabei war die Anstaltseinweisung der Endpunkt einer «Repressionsspirale» (S. 132), unvorhersehbar und doch als Drohung stets präsent. Ihre Unberechenbarkeit war keineswegs unbeabsichtigt, sondern «die zentrale Logik des Systems» (S. 160), in dem die Akten eine Schlüsselrolle spielten. Mit der Anstaltseinweisung als Fluchtpunkt, gaben sie eine Lesart von Lebensläufen vor, die für die Betroffenen gleichermassen unentrinnbar und undurchschaubar war. Wer einmal aktenkundig geworden war, sah sich in den Zustand fortgesetzter Ungewissheit versetzt. Verweigerte Akteneinsicht, die unverständliche Rechtsterminologie und die «Brutalisierung der Sprache» (S. 138) in Expertengutachten vertieften den Effekt der Einschüchterung.

Rechtsstaatliche Defizite standen seit den 1920er-Jahren im Brennpunkt der Kritik. Schon in der Zwischenkriegszeit verurteilte der streitbare Publizist Carl Albert Loosli Anstaltseinweisungen als «Administrativjustiz» und bezeichnete die Arbeits- und Erziehungsanstalten als «schweizerische Konzentrationslager» (S. 67). Doch Gerichte und Juristen schoben derartige Bedenken regelmässig beiseite. Die Massnahme sei keine Strafe, sondern lediglich ein Erziehungsmittel, lautete die gängige Begründung. Daran mochte die Tatsache wenig zu rütteln, dass die Schweiz nach 1945 ein «Sonderfall» (S. 57) war. Erst ihr – verhältnismässig später – Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention 1974 machte jene Rechtsanpassung notwendig, die ab 1981 die schlimmsten Auswüchse verhinderte.

Wer war von administrativen Versorgungen betroffen? Genaue Daten existieren nicht. Wegen der disparaten Quellenlage lässt sich die Zahl der Betroffenen nur annäherungsweise bestimmen. Die Schätzungen der UEK belaufen sich für den Untersuchungszeitraum auf 20.000–40.000 Personen. Für das ganze 20. Jahrhundert geht die Forschung von 60.000 Personen aus. Den Höchststand erreichten die Anstaltseinweisungen in den 1930er-Jahren, einer Zeit hoher Erwerbslosigkeit. Ab Ende des Zweiten Weltkriegs zeichnete sich ein Rückgang ab, ohne dass die Behörden jemals gänzlich auf das Instrument verzichtet hätten. Bedroht von der Massnahme waren primär Menschen in prekären Lebenslagen: Unsichere Beschäftigungsverhältnisse, Ehelosigkeit, Fremdplatzierung in der Jugend und eine von Erwerbsunterbrüchen und häufigen Ortswechseln geprägte Biografie bildeten die Hauptrisiken.

Rund 80 Prozent der Betroffenen waren Männer. Dies widerspiegelt laut Germann und Odier das patriarchalische Geschlechterarrangement mit seinen unterschiedlichen Sanktionen für Männer und Frauen. Erwerbslose Männer oder Alkoholiker gerieten rasch in den Verruf des Versagers und Störenfrieds, den man zum Schutz von Ruhe und Ordnung wegsperrte. Sie galten als öffentliche Bedrohung, weil sie der Norm des Familienernährers nicht genügten. Konformitätszwänge für Frauen dagegen konzentrierten sich auf die Sexualmoral. Für deren Einhaltung war im Untersuchungszeitraum die Familie zuständig. Erst in den 1960er-Jahren zeichnete sich ein Anstieg junger Frauen unter den administrativ Versorgten ab, ein Trend, der auf das nachlassende Vermögen der Familie hindeute, die weibliche Sexualität zu überwachen.

Was haben die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bewirkt? Den deklarierten Zweck der Nacherziehung erfüllten sie kaum. Die Versorgung der Betroffenen in allen erdenklichen Institutionen – von psychiatrischen Kliniken über Trinkerheil- und Arbeitsanstalten bis hin zu Strafanstalten – verschärfte stattdessen die soziale Marginalisierung von randständigen Menschen. Miserable Lebensbedingungen und die Gewaltstrukturen der Anstalten beeinträchtigten das physische, psychische und moralische Wohlergehen der Versorgten. Wer sich beschwerte, stiess rasch auf ein «Kartell des Schweigens» (S. 189) und musste weitere Sanktionen gewärtigen. Schliesslich sei es die Absicht der Behörden gewesen, den «diskreditierten Menschen ein spürbares Leiden» (S. 197) aufzuerlegen. Verbunden mit der faktischen Entrechtung bildete die administrative Versorgung eine «prägnante Form struktureller Gewalt» (S. 160). Dieses Fazit kann man aufgrund der erdrückenden Aktenlage der UEK vorbehaltlos unterschreiben.

Der Schlussbericht schreibt ein düsteres Kapitel Sozialgeschichte. Schonungslos enthüllt er die Kehrseite des «Erfolgsmodells» Schweiz und zeichnet das Bild einer von Kontrollwahn und pedantischen Ordnungsvorstellungen besessenen Gesellschaft. Sachlich, ohne Beschönigungen, in einer gut lesbaren Sprache und mit souveräner Urteilskraft geschrieben, setzt die Darstellung von Urs Germann und Lorraine Odier Standards für die Forschung. Gleichzeitig leistet sie einen wichtigen Beitrag für die öffentliche Aufklärung und die Anerkennung historischen Unrechts. Der Schlussbericht enthält aber auch einige bedauerliche Lücken, die primär durch das Forschungsdesign der UEK bedingt sind. So macht der Bericht kaum Brüche erkennbar – weder für die 1940er-Jahre, die auch in der kriegsverschonten Schweiz eine Umbruchphase waren, noch für die 1970er-Jahren mit ihren Kampagnen für Strafrechts- und Heimreformen und Skandalen um die Kindswegnahmen und Zwangsassimilation der Jenischen.

Anmerkungen:
1 Johanna Sköld, Historical Abuse – A Contemporary Issue. Compiling Inquiries into Abuse and Neglect of Children in Out-of-Home Care Worldwide, in: Journal of Scandinavian Studies in Criminology and Crime Prevention 14 (2013), 1, S. 5–23.
2 Für das Forschungsdesign und die zehn online greifbaren Berichte vgl. https://www.uek-administrative-versorgungen.ch/startseite (15.12.2019).

Redaktion
Veröffentlicht am
04.02.2020
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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